Montag, 10. Dezember 2007

Es weihnachtet nicht sehr...

Ein Blick auf den Kalender lässt mich vermuten, dass ihr eure Körper inzwischen mit allerlei wärmenden Schichten umgebt, eure Mägen mit Punsch, Tee und Keksen füllt und euch inmitten alle Jahre wiederkehrender Phänomene wiederfindet, die in Summa unter dem Begriff „Vorweihnachtszeit“ bekannt sind: Beleuchtungskitsch und X-Mas-Special-Sonderangebote, Weihnachtsmann-Mimen mit schlecht sitzenden Rauschebärten, „gemütliches Beisammensein“ (ha ha) auf betriebsinternen Weihnachtsfeiern, seichtes Chorgeträller mit Glöckchensound beim Billa, Invasionen karitativer Türklinkenputzer... aber vielleicht auch ruhige Minuten vor dem Adventskranz, während draußen leise der Schnee rieselt, Rückbesinnung auf Wesentliches oder gar transzendente Erfahrungen beim Vanillekipferlbacken...?
Soweit meine Mutmaßungen. Es könnte natürlich auch sein, dass dieses Jahr alles anders ist, dass Weihnachten heuer streng asketisch begangen wird, man sich Asche aufs Haupt streut, seine Kleider zerreißt und Konsumenten verprügelt. Oder vielleicht darf's diesmal etwas Exotisches sein? Spiritistische Séancen mit Südeseeschamanen?
Doch wie ich Wien kenne, ist alles beim Alten. Und hier? Nichts von alledem! Zwischen Qat, Krummdolch und Kalashnikov wären goldene Engerln und Lametta aber auch einfach deplaziert. Nehmt es mir darum bitte nicht übel, wenn mein heutiger Bericht wenig weihnachtlich ausfällt...

Es geht um Waffen. Das Thema beschäftigt mich hier schon länger; dass ich aber ausgerechnet im Advent darüber schreibe, liegt an einer kleine Landpartie, die ich dieses Wochenende mit ein paar Freunden gemacht habe. Ziel war die berüchtigte Provinz Marib, Heimat der legendären Königin von Saba, Wiege der jemenitischen Kultur, aber auch Gebiet aufsässiger Stämme, womöglich gar Brutstätte des Terrorismus...
Da die Region aber in letzter Zeit ruhig war, hat die deutsche Botschaft ihr Reiseverbot aufgehoben, und so nutzten wir die Gelegenheit, unter der Leitung einer erfahrenen Kollegin eine kleine Tour machen zu können.

So schön war’s – am liebsten würde ich euch jetzt seitenlang das phantastische Erlebnis schildern, in der Dunkelheit auf einer noch warmen Sanddüne zu liegen und den Sternenhimmel zu bestaunen, verloren in den endlosen Weiten der Wüste...
Aber die „Waffen-Story“ dängte sich mir das ganze Wochenende lang förmlich auf - deshalb werde ich sie mir jetzt von der Seele schreiben.
Schild am Eingang zu einem Spital

Als wohlbehütete Wienerin war mir der Anblick von Waffen natürlich völlig fremd, sieht man von den paar Kieberern ab, die dort ihre Pistölchen spazieren tragen, einmal zum Würstelstand und wieder zurück. Auch bin ich kein Fan von Action-Movies und Ballervideospielen und halte es eher mit der alten Bauernweisheit „Make love, not war“. Umso erstaunlicher ist es, dass ich inzwischen beim Anblick eines Sturmgewehres nicht einmal mehr verächtlich die Augenbraue hebe.
Zwei Steinwürfe von meiner Wohnung entfernt steht ein stark gesichtertes Gebäude - je nach Quelle entweder die Zentrale des jemenitischen Geheimdienstes oder das Gefängnis für Terroristen und politische Gefangene. Fast jeden Tag gehe ich an den Soldaten vorbei, die davor patrouillieren, und am Anfang hatte ich dabei immer ein mulmiges Gefühl - was, wenn einer von ihnen ein bisschen irre oder hypersensibel ist, oder mich angesichts meiner Größe für einen verkleideten Fundamentalisten mit Sprengstoffgürtel unter der Abbaya hält...?
Inzwischen gehe ich dort so seelenruhig vorbei, als spazierte ich durch den vierten Wiener Gemeindebezirk. Die Nachbarkinder scheren sich auch kein bißchen um die martialischen Gestalten - sie nutzen den abgesperrten Gehsteig als Fußballfeld. Neulich sah ich, wie einer der Soldaten seine Kalashnikov von der Schulter nahm, neben sich auf den Boden legte und zu beten begann... Waffen gehören hier einfach zum Alltag wie anderswo Regenschirme oder Aktentaschen.

Für eine Reise durch Marib ist so ein Gewöhnungseffekt auf jeden Fall von Vorteil. Sonst geht es einem womöglich wie jenem jüngst eingereisten hochrangigen Botschaftsangestellten, der sich zum Gespött der internationalen Community gemacht hat, weil er überall herumerzählt, er sei nur knapp einem Entführungsversuch entkommen: als sein Konvoi an einem Militärcheckpoint in Marib hielt, sei plötzlich aus dem Jeep vor ihnen ein Haufen Männer ausgestiegen, die – und jetzt haltet euch fest - mit Kalashnikovs bewaffnet waren! Zum Glück sei er mutig und geistesgegenwärtig genug gewesen, sofort in sein Auto zu springen und James-Bond-mäßig mit quietschenden Reifen davonzufahren...
Warum ihn alle auslachen? Der Punkt ist: alle Männer, die in Marib aus Autos steigen, tragen Kalashnikovs, alle Männer, die dort am Straßenrand sitzen und Qat kauen, tragen Kalashnikovs, alle Männer, die auf dem Markt ihre Ziegen verkaufen, tragen Kalashnikovs. Ich war dort, ich kann's bezeugen: Waffen, soweit das Auge reicht.

Es begann am ersten Checkpoint nach Sana’a, wo uns eine Militäreskorte aufgehalst wurde – ein Pickup mit fünf bewaffneten Soldaten auf der Ladefläche. Hier holte unser Fahrer, ein Beduine aus Marib, auch seine Kalashnikov ab, die er bei der Polizei deponiert hatte (das Tragen von Waffen ist neuerdings in allen größeren Städten verboten). Den Schaft lässig zwischen Brems- und Gaspedal geklemmt, den Lauf direkt auf den Beifahrersitz gerichtet, war die Maschine optimal griffbereit verstaut...
Auf der Hauptstraße, die quer durch Marib führt, hat die Regierung alle paar Kilometer Militärcheckpoints errichtet - ein verzweifelter Versuch, die stolzen und unabhängigen Stämme unter ihre Kontrolle zu bekommen. Die Prozedur ist eine reine Farce: man hält an, gibt den Soldaten eine Kopie der Reisegenehmigung, beantwortet ein paar Fragen, fährt weiter. Einige Soldaten sind blutjung, manche verraten sich als Analphabeten, indem sie die Genehmigung konzentriert studieren, obwohl sie sie falsch herum halten... Ihre Waffen beeindrucken in dieser Region keinen, sind doch die „Zivilisten“ ebenfalls bis an die Zähne bewaffnet – Krummdolch, Sturmgewehr und Patronengürtel gehören hier zur Standardausstattung (der Männer, versteht sich, Frauen hab ich überhaupt keine gesehen).

Schießübungen in der Wüste

Kurzum: es wundert mich nicht mehr, dass der Jemen mit 61 Waffen pro 100 Einwohnern nach den USA und Finnland auf Platz 3 der bewaffnetsten Staaten der Welt rangiert (Quelle: Small Arms Survey 2007, Graduate Institute of International Studies). Wenn man bedenkt, dass ca. 50 Prozent der jemenitischen Bevölkerung unter 15 Jahre alt ist, und dass ungefähr die Hälfte der Erwachsenen Frauen sind, dann kommen auf 25 erwachsene Männer 61 Waffen! Mein einheimischer Kollege scheint recht zu haben, wenn er sagt: „Yemen is like Texas – we are all Cowboys!“ Früh übt sich...

Doch was MACHEN die Jemeniten mit all diesen Waffen? Die erste Erklärung findet sich, wenn man mit offenen Augen durch die Straßen Sana'as spaziert. Hier ist das Tragen von Schußwaffen zwar inzwischen verboten, doch der Stolz, mit dem die Burschen und Männer ihre Krummdolche vor sich hertragen, lässt keinen Zweifel daran, worum es primär geht: um Ehre, Männlichkeit, Status und Macht. Das Tragen von Waffen ist tief in der jemenitischen Tradition und Gesellschaftsstruktur verwurzelt – will man die vielen Kalashnikovs verstehen, so muss man sich diese genauer anschauen.

Die dominierende gesellschaftliche Gruppe unter den Jemeniten sind die Qaba'il, die Mitglieder von Stämmen. Der Nationalstaat hat in weiten Teilen des Landes kaum Einfluß auf den Alltag der Menschen, der von tribalen Regeln, Werten und Gesetzen geprägt ist. In diesem Kontext wird von einem Mann erwartet, dass er sein Land, seine Familie und seine Ehre verteidigen kann. Diese Vorstellung besteht vor Allem in ländlichen Gegenden ungebrochen fort. Mangelndes Vertrauen zum Staat und seiner Exekutive, die von vielen als feindlich empfunden werden, und die sich zuspitzende sozio-ökonomische Situation haben die Nachfrage nach Waffen sogar noch gesteigert.

Dass es in einem Land, in dem 16 % der Bevölkerung von weniger als einem Dollar pro Tag lebt, angesichts einer derartigen Waffendichte nicht zu völliger Anarchie kommt, zeugt von starken sozialen Kontrollmechanismen. Wie alles in dieser konservativen Gesellschaft, ist auch die Verwendung von Waffen strengen ungeschriebenen Gesetzen unterworfen. So wäre hierzulande ein bewaffneter Raubüberfall höchst unüblich, während Ehrenmorde und Blutfehden in gewissen Situationen und bei bestimmten Gruppen fast unumgänglich sind – ein Mädchen in Al Jouf hat uns zum Beispiel erzählt, dass die meisten männlichen Einwohner ihres Dorfes ihre Häuser nicht mehr verlassen, weil sie sich sonst aufgrund einer Blutfehde alle gegenseitig umbringen müssten.

Die Regierung versucht neuerdings, die Verbreitung von Waffen im Land mittels strengerer Gesetze einzudämmen – hat sie womöglich Angst vor ihrem eigenen Volk? Dessen Unmut über steigende Preise, ungerechte Verteilung von Chancen und Ressourcen zwischen Nord und Süd, fragliche staatliche Ansprüche auf Land und Bodenschätze, Verstöße gegen die Pressefreiheit etc. etc. wächst stetig, und äußert sich vermehrt in Form von Demonstrationen und Streiks. Bis jetzt sind die Proteste relativ friedlich verlaufen. Meine Bitte ans Christkind: dass es so bleibt, oder gar besser wird, wenn das noch auf den Wunschzettel passt...

Ihr dürft aber nicht glauben, dass ich euch die Weihnachtsstimmung verderben will – ganz im Gegenteil! Ich wünsche euch von ganzem Herzen Friede, Freude und Florentiner! Genießt den Advent und denkt an mich, wenn ihr Lebkuchen eßt oder „O Heiland reiß' die Himmel auf“ singt...