Sonntag, 27. April 2008

Good Bye Yemen

Tempus fugit... Man stolpert von einem Tag zum anderen, und ehe man sich’s versieht, beginnt hier auf einmal die Regenzeit mit ihren sintflutartigen Wolkenbruechen, und in der fernen Heimat bluehen die Kirschbaeume.

Ferne Heimat..? Acht Tage trennen mich nur noch von Oesterreich, eine Tatsache, die mich abwechselnd mit Erleichterung und Schrecken erfuellt. Erleichterung, weil ich dann endlich wieder die Geborgenheit von Familie, alten Freunden und vertrauter Umgebung geniessen kann. Erleichterung, weil ich der sich stetig verschlechternden Sicherheitssituation im Lande entkomme.
Schrecken, weil mir nun zahllose tragische Abschiede von lieben Freunden, Kollegen, Nachbarn und Bekannten bevorstehen. Weil mir dieses verrueckte Land unglaublich ans Herz gewachsen ist und ich mich in all dem Chaos und der Exotik doch ein bisschen zuhause fuehle. Weil ich noch so viel erledigen muss...

Wie soll man nach einem einjaehrigen Aufenthalt in ein paar Tagen die Anker lichten? Wie loese ich die zahllosen Vertaeuungen, die mich inzwischen fest ans einst so fremde Land binden - einfach entknoten, fein saeuberlich zusammenrollen, die Segel setzen und den Heimathafen ansteuern?

Fehlen werden mir vor Allem Menschen. Meine lieben Nachbarinnen, mit denen ich literweise Tee getrunken, spannende Diskussionen in gebrochenem Arabisch gefuehrt und auf so mancher Hochzeit getanzt habe, und die mich trotz meines fuer sie unverstaendlichen Lebens (kein Mann, keine Kinder, kein Islam) so ruehrend aufgenommen haben.
Meine Jemeni-Jungs und die Chill-Sessions im besten DVD-Shop des Landes, zielloses Herumcruisen und Fast-Food-Essen...
Mein Lieblings-Taxifahrer Ahmed, der als stiller Beschuetzer vor meinem Haus wachte und sich auf jeder Fahrt meiner arabisch-musikalischen Bildung annahm.
Die vielen netten Auslaender, die ich hier kennegelernt habe, und die mir vor Allem dann eine wichtige Stuetze waren, wenn ich eine Jemen-Overdose hatte...
Mein Forschungsteam - Dr. Bin Afif, Abdelrahman und "meine" Studenten. Trotz einiger Turbulenzen, Revolutionen und Tiefpunkte waren die zwei Monate Feldforschung eine unglaublich lustige und spannende Zeit, in der ich sehr viel gelernt habe: von Sana’ani-Slang ueber Landeskunde und Gruppendynamik bis hin zur Kunst des Kopftuchbindens.
Fehlen wird mir die Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit, die einen hier immer wieder verbluefft, das jemenitische Essen, die Landschaft, die Herausforderung, der ueberzuckerte Tee, die traumhaft schoene Altstadt, der Ruf des Muezzins, und die Art, mit Humor und Flexibilitaet Probleme anzugehen.

Was mir sicher nicht abgehen wird, ist der Smog, die omnipraesente Armut, der nervenaufreibende Laerm und Verkehr, Checkpoints, Waffen und Soldaten, die vielen Qat-kauenden Maenner, die ueberall herumlungern und einen dazu zwingen, auf den Strassen Slalom zu laufen, das Gefuehl der Fremdheit, die Tatsache, dass ich staendig wallende Gewaender tragen muss und trotzdem so viel Aufmerksamkeit errege wie eine Brasilianerin in hot pants auf der Kaerntnerstrasse...

Es ist sicher noch zu frueh fuer ein Fazit meines Jemen-Jahres. Eine italienische Freundin, die vor einem Monat nach Europa zurueckgekehrt ist, schreibt: du wirst erst zu Hause bemerken, wie sehr dich diese Erfahrung veraendert hat. Ich bin gespannt...

Bis bald!
Leni

Montag, 10. Dezember 2007

Es weihnachtet nicht sehr...

Ein Blick auf den Kalender lässt mich vermuten, dass ihr eure Körper inzwischen mit allerlei wärmenden Schichten umgebt, eure Mägen mit Punsch, Tee und Keksen füllt und euch inmitten alle Jahre wiederkehrender Phänomene wiederfindet, die in Summa unter dem Begriff „Vorweihnachtszeit“ bekannt sind: Beleuchtungskitsch und X-Mas-Special-Sonderangebote, Weihnachtsmann-Mimen mit schlecht sitzenden Rauschebärten, „gemütliches Beisammensein“ (ha ha) auf betriebsinternen Weihnachtsfeiern, seichtes Chorgeträller mit Glöckchensound beim Billa, Invasionen karitativer Türklinkenputzer... aber vielleicht auch ruhige Minuten vor dem Adventskranz, während draußen leise der Schnee rieselt, Rückbesinnung auf Wesentliches oder gar transzendente Erfahrungen beim Vanillekipferlbacken...?
Soweit meine Mutmaßungen. Es könnte natürlich auch sein, dass dieses Jahr alles anders ist, dass Weihnachten heuer streng asketisch begangen wird, man sich Asche aufs Haupt streut, seine Kleider zerreißt und Konsumenten verprügelt. Oder vielleicht darf's diesmal etwas Exotisches sein? Spiritistische Séancen mit Südeseeschamanen?
Doch wie ich Wien kenne, ist alles beim Alten. Und hier? Nichts von alledem! Zwischen Qat, Krummdolch und Kalashnikov wären goldene Engerln und Lametta aber auch einfach deplaziert. Nehmt es mir darum bitte nicht übel, wenn mein heutiger Bericht wenig weihnachtlich ausfällt...

Es geht um Waffen. Das Thema beschäftigt mich hier schon länger; dass ich aber ausgerechnet im Advent darüber schreibe, liegt an einer kleine Landpartie, die ich dieses Wochenende mit ein paar Freunden gemacht habe. Ziel war die berüchtigte Provinz Marib, Heimat der legendären Königin von Saba, Wiege der jemenitischen Kultur, aber auch Gebiet aufsässiger Stämme, womöglich gar Brutstätte des Terrorismus...
Da die Region aber in letzter Zeit ruhig war, hat die deutsche Botschaft ihr Reiseverbot aufgehoben, und so nutzten wir die Gelegenheit, unter der Leitung einer erfahrenen Kollegin eine kleine Tour machen zu können.

So schön war’s – am liebsten würde ich euch jetzt seitenlang das phantastische Erlebnis schildern, in der Dunkelheit auf einer noch warmen Sanddüne zu liegen und den Sternenhimmel zu bestaunen, verloren in den endlosen Weiten der Wüste...
Aber die „Waffen-Story“ dängte sich mir das ganze Wochenende lang förmlich auf - deshalb werde ich sie mir jetzt von der Seele schreiben.
Schild am Eingang zu einem Spital

Als wohlbehütete Wienerin war mir der Anblick von Waffen natürlich völlig fremd, sieht man von den paar Kieberern ab, die dort ihre Pistölchen spazieren tragen, einmal zum Würstelstand und wieder zurück. Auch bin ich kein Fan von Action-Movies und Ballervideospielen und halte es eher mit der alten Bauernweisheit „Make love, not war“. Umso erstaunlicher ist es, dass ich inzwischen beim Anblick eines Sturmgewehres nicht einmal mehr verächtlich die Augenbraue hebe.
Zwei Steinwürfe von meiner Wohnung entfernt steht ein stark gesichtertes Gebäude - je nach Quelle entweder die Zentrale des jemenitischen Geheimdienstes oder das Gefängnis für Terroristen und politische Gefangene. Fast jeden Tag gehe ich an den Soldaten vorbei, die davor patrouillieren, und am Anfang hatte ich dabei immer ein mulmiges Gefühl - was, wenn einer von ihnen ein bisschen irre oder hypersensibel ist, oder mich angesichts meiner Größe für einen verkleideten Fundamentalisten mit Sprengstoffgürtel unter der Abbaya hält...?
Inzwischen gehe ich dort so seelenruhig vorbei, als spazierte ich durch den vierten Wiener Gemeindebezirk. Die Nachbarkinder scheren sich auch kein bißchen um die martialischen Gestalten - sie nutzen den abgesperrten Gehsteig als Fußballfeld. Neulich sah ich, wie einer der Soldaten seine Kalashnikov von der Schulter nahm, neben sich auf den Boden legte und zu beten begann... Waffen gehören hier einfach zum Alltag wie anderswo Regenschirme oder Aktentaschen.

Für eine Reise durch Marib ist so ein Gewöhnungseffekt auf jeden Fall von Vorteil. Sonst geht es einem womöglich wie jenem jüngst eingereisten hochrangigen Botschaftsangestellten, der sich zum Gespött der internationalen Community gemacht hat, weil er überall herumerzählt, er sei nur knapp einem Entführungsversuch entkommen: als sein Konvoi an einem Militärcheckpoint in Marib hielt, sei plötzlich aus dem Jeep vor ihnen ein Haufen Männer ausgestiegen, die – und jetzt haltet euch fest - mit Kalashnikovs bewaffnet waren! Zum Glück sei er mutig und geistesgegenwärtig genug gewesen, sofort in sein Auto zu springen und James-Bond-mäßig mit quietschenden Reifen davonzufahren...
Warum ihn alle auslachen? Der Punkt ist: alle Männer, die in Marib aus Autos steigen, tragen Kalashnikovs, alle Männer, die dort am Straßenrand sitzen und Qat kauen, tragen Kalashnikovs, alle Männer, die auf dem Markt ihre Ziegen verkaufen, tragen Kalashnikovs. Ich war dort, ich kann's bezeugen: Waffen, soweit das Auge reicht.

Es begann am ersten Checkpoint nach Sana’a, wo uns eine Militäreskorte aufgehalst wurde – ein Pickup mit fünf bewaffneten Soldaten auf der Ladefläche. Hier holte unser Fahrer, ein Beduine aus Marib, auch seine Kalashnikov ab, die er bei der Polizei deponiert hatte (das Tragen von Waffen ist neuerdings in allen größeren Städten verboten). Den Schaft lässig zwischen Brems- und Gaspedal geklemmt, den Lauf direkt auf den Beifahrersitz gerichtet, war die Maschine optimal griffbereit verstaut...
Auf der Hauptstraße, die quer durch Marib führt, hat die Regierung alle paar Kilometer Militärcheckpoints errichtet - ein verzweifelter Versuch, die stolzen und unabhängigen Stämme unter ihre Kontrolle zu bekommen. Die Prozedur ist eine reine Farce: man hält an, gibt den Soldaten eine Kopie der Reisegenehmigung, beantwortet ein paar Fragen, fährt weiter. Einige Soldaten sind blutjung, manche verraten sich als Analphabeten, indem sie die Genehmigung konzentriert studieren, obwohl sie sie falsch herum halten... Ihre Waffen beeindrucken in dieser Region keinen, sind doch die „Zivilisten“ ebenfalls bis an die Zähne bewaffnet – Krummdolch, Sturmgewehr und Patronengürtel gehören hier zur Standardausstattung (der Männer, versteht sich, Frauen hab ich überhaupt keine gesehen).

Schießübungen in der Wüste

Kurzum: es wundert mich nicht mehr, dass der Jemen mit 61 Waffen pro 100 Einwohnern nach den USA und Finnland auf Platz 3 der bewaffnetsten Staaten der Welt rangiert (Quelle: Small Arms Survey 2007, Graduate Institute of International Studies). Wenn man bedenkt, dass ca. 50 Prozent der jemenitischen Bevölkerung unter 15 Jahre alt ist, und dass ungefähr die Hälfte der Erwachsenen Frauen sind, dann kommen auf 25 erwachsene Männer 61 Waffen! Mein einheimischer Kollege scheint recht zu haben, wenn er sagt: „Yemen is like Texas – we are all Cowboys!“ Früh übt sich...

Doch was MACHEN die Jemeniten mit all diesen Waffen? Die erste Erklärung findet sich, wenn man mit offenen Augen durch die Straßen Sana'as spaziert. Hier ist das Tragen von Schußwaffen zwar inzwischen verboten, doch der Stolz, mit dem die Burschen und Männer ihre Krummdolche vor sich hertragen, lässt keinen Zweifel daran, worum es primär geht: um Ehre, Männlichkeit, Status und Macht. Das Tragen von Waffen ist tief in der jemenitischen Tradition und Gesellschaftsstruktur verwurzelt – will man die vielen Kalashnikovs verstehen, so muss man sich diese genauer anschauen.

Die dominierende gesellschaftliche Gruppe unter den Jemeniten sind die Qaba'il, die Mitglieder von Stämmen. Der Nationalstaat hat in weiten Teilen des Landes kaum Einfluß auf den Alltag der Menschen, der von tribalen Regeln, Werten und Gesetzen geprägt ist. In diesem Kontext wird von einem Mann erwartet, dass er sein Land, seine Familie und seine Ehre verteidigen kann. Diese Vorstellung besteht vor Allem in ländlichen Gegenden ungebrochen fort. Mangelndes Vertrauen zum Staat und seiner Exekutive, die von vielen als feindlich empfunden werden, und die sich zuspitzende sozio-ökonomische Situation haben die Nachfrage nach Waffen sogar noch gesteigert.

Dass es in einem Land, in dem 16 % der Bevölkerung von weniger als einem Dollar pro Tag lebt, angesichts einer derartigen Waffendichte nicht zu völliger Anarchie kommt, zeugt von starken sozialen Kontrollmechanismen. Wie alles in dieser konservativen Gesellschaft, ist auch die Verwendung von Waffen strengen ungeschriebenen Gesetzen unterworfen. So wäre hierzulande ein bewaffneter Raubüberfall höchst unüblich, während Ehrenmorde und Blutfehden in gewissen Situationen und bei bestimmten Gruppen fast unumgänglich sind – ein Mädchen in Al Jouf hat uns zum Beispiel erzählt, dass die meisten männlichen Einwohner ihres Dorfes ihre Häuser nicht mehr verlassen, weil sie sich sonst aufgrund einer Blutfehde alle gegenseitig umbringen müssten.

Die Regierung versucht neuerdings, die Verbreitung von Waffen im Land mittels strengerer Gesetze einzudämmen – hat sie womöglich Angst vor ihrem eigenen Volk? Dessen Unmut über steigende Preise, ungerechte Verteilung von Chancen und Ressourcen zwischen Nord und Süd, fragliche staatliche Ansprüche auf Land und Bodenschätze, Verstöße gegen die Pressefreiheit etc. etc. wächst stetig, und äußert sich vermehrt in Form von Demonstrationen und Streiks. Bis jetzt sind die Proteste relativ friedlich verlaufen. Meine Bitte ans Christkind: dass es so bleibt, oder gar besser wird, wenn das noch auf den Wunschzettel passt...

Ihr dürft aber nicht glauben, dass ich euch die Weihnachtsstimmung verderben will – ganz im Gegenteil! Ich wünsche euch von ganzem Herzen Friede, Freude und Florentiner! Genießt den Advent und denkt an mich, wenn ihr Lebkuchen eßt oder „O Heiland reiß' die Himmel auf“ singt...





Donnerstag, 15. November 2007

Parallelgesellschaft

Es gibt unter den Bewohnern Sana’as eine besonders exotische Gruppe, die ich in den letzten Wochen anlässlich zweier Events genauer studieren durfte: die Ausländercommunity.
Obwohl die meisten Zuwanderer schon seit Jahren hier leben, bevorzugen viele den Kontakt mit ihresgleichen, anstatt sich intensiv um Anschluß an die Mehrheitsgesellschaft zu bemühen. Dem geschulten Ethnologinnenblick springt vor Allem ihr nostalgisches Festhalten an teils skurrilen und für Außenstehende unverständlichen Ritualen und Traditionen ins Auge, die selbst in den jeweiligen Herkunftsländern umstritten sind. Und während nach Außen hin die Regeln und Konventionen des Gastlandes respektiert werden, spielen sich bei den internen Zusammenkünften oft Dinge ab, die im Jemen eindeutig als verwerflich gelten...

Bestes Beispiel hierfür ist der Stellenwert, den Alkohol hierzulande unter den Ausländern einnimmt. Dessen Omnipräsenz in Europa grenzt ja auch schon fast ans Zwanghafte, was mir erst so richtig auffällt, seitdem ich hier bin. Aber in der hiesigen Expat-Community hat hat sich ein regelrechter Alkohol-Kult entwickelt – ob dieser Sakralisierungsprozeß eine neue Diasporareligion hervorbringen wird, ist unter Experten noch umstritten. Fest steht aber, dass hier ordentlich gesoffen wird - ob aus Protest gegen die allzu konservative jemenitische Gesellschaft, aus Heimweh, Langeweile, Einsamkeit... ich weiß es nicht.

Eigentlich hatte ich mich auf ein nüchternes Jahr fernab aller profanen Rauschzustände eingestellt; inmitten gleichgesinnter Idealisten würde ich anstatt mittels hochprozentiger Substanzen allein durch Kontemplation in geistige Verzückung geraten... soweit der Plan. Doch schon auf der ersten Ausländerparty wurde ich Zeugin eines erstaunlichen Schauspiels, das sich seitdem ständig wiederholt: erwachsene Männer und Frauen - beliebt, erfolgreich und von impekkabler Reputation - stürzen sich auf die Drinks wie Halbverdurstete nach einer Wüstendurchquerung und murmeln, falls sie sich ertappt fühlen, Entschuldigungen wie „Hier muss man sich ja auch mal was gönnen...“ oder „Nicht wahr, im Jemen kriegt man das so selten..?“.
Wobei „selten“ scheinbar Definitionssache ist – bald konnte ich nämlich eine einfache Regel aufstellen, die in Sana'a fast immer Gültigkeit hat: wo Ausländer sind, da ist auch Alkohol...

Aber: aus welchen geheimen Quellen speisen sich diese umfangreichen Vorkommen an verbotenen Flüssigkeiten in einem Land, in dem es - von ein paar zwielichtigen Spelunken abgesehen, wo Schmuggelware unter der Hand verscherbelt wird – nirgends Alkohol zu kaufen gibt? Des Rätsels Lösung – jedenfalls, was die hiesigen Deutschen betrifft – ist die sogenannte „Helia-Lieferung“, eine über die Botschaft laufende Bestellung bei einem deutschen Großhändler, der per Katalog so ziemlich alles anbietet, was einem im Jemen abgehen könnte - von A wie Averna bis Z wie Zahnseide... Zweimal im Jahr dürfen Angestellte der Botschaft und der Entwicklungszusammenarbeit dort bestellen, wobei aber die Pro-Kopf-Ausgaben für Alkohol die lächerliche Summe von 500 Euro nicht überschreiten dürfen. Diese Regelung hat weitreichende sozio-ökonomische Folgen: wer sein eigenes Kontingent nicht selbst ausschöpft, gewinnt plötzlich die Macht, nach Belieben Gnaden zu gewähren oder zu verweigern, den einen zu erhören und somit für immer in unterwürfiger Dankbarbeit an sich zu binden, und den anderen eiskalt abblitzen zu lassen, auf daß er sich die Haare raufe und mit den Zähnen knirsche...

Wer in Sana'a auswärts etwas trinken gehen will, hat nur drei Möglichkeiten: Sheraton, Mövenpick oder den legendären „Russian Club“. Hierbei handelt es sich um die einzige Location in ganz Jemen, die man mit etwas Phantasie bzw. nach ein paar Vodka-Shots als „Nachtclub“ bezeichnen könnte. Zwei platinblonde, mürrische Russinnen schmeißen den Laden, dessen Ausstattung und Atmosphäre an eine heruntergekommene Dorfdisko erinnern. Neben den Getränkeflaschen stehen Babushkas im Regal, an der Wand hängen sowjetische Militärorden neben einer orthodoxen Ikone. Auf der mit mit ausgesuchten Geschmacklosigkeiten von Abba bis Modern Talking beschallten Tanzfläche trifft sich die kleine Leidensgemeinschaft der jungen Ausländer, die sich angesichts der hiesigen Strenge nach etwas Party sehnen...
Ganz anders die Stimmung in den beiden Luxushotels. Ein einziges Mal war ich im hauseigenen Club des Mövenpick, welcher der den klingenden Namen „Horse Shoe“ trägt (hiermit schreibe ich einen Wettbewerb um die plausibelste Erklärung für die Wahl ausgerechnet dieses Namens aus – dem glücklichen Gewinner winkt ein Drink in ebendiesem), und das hat mir schon gereicht.
Nachdem uns der Türsteher gnädig durchgewunken hatte, bot sich uns ein Anblick, der die perfekte Antithese zu jenem Land darstellte, das jenseits der Hotelpforten lag: auf der Bühne standen drei langhaarige Asiatinnen in bauchfreien Tops, Lackhotpants und hohen weißen Lederstiefeln und gaben eine Art “Sexy-Tanz-Playbackshow” zum besten... An der Bar und in den Sitzecken der pseudo-edlen, schummrigen Lokalität saßen ausschließlich Männer.
Nach der Show tauchte auf einmal eine Gruppe schwarz verhüllter Gestalten auf und steuerte direkt auf das Damen -WC zu. Ein paar Minuten später kamen weiß gepuderte, stark geschminkte Fräulein in knappen Outfits zum Vorschein...es ist immer wieder erstaunlich, wie schnell solche Verwandlungen gehen! Im Nu verteilten sie sich strategisch über Bar und Tanzfläche, und mich überkaum das ungute Gefühl, die einzige Frau im Raum zu sein, die nicht aus beruflichen Gründen hier war...

Doch zurück zu den Ausländern und ihren Macken. Das teils drastische Auseinanderklaffen zwischen hiesiger Realität und Exilkultur ließ sich auch unlängst in der deutschen Botschaft beobachten, wo der Tag der deutschen Einheit nachgefeiert wurde. Die deutsche Community Sana’as und internationale Gäste taten sich an Schweinsschnitzeln, Würstchen und Bier gütlich, während eine bayrische Lederhosencombo für Schunkel-Bierzeltstimmung sorgte – gut, daß wohl kaum ein Jemenite deren deftige Texte verstand...
Einen noch krasseren Kontrast zum „normalen“ jemenitischen Alltag bot aber eine Salsa-Party, die vor ein paar Tagen im diplomatischen Club geschmissen wurde. Als die ersten Kubanerinnen in kurzen Kleidchen mit ihren abenteuerlichen Hüft- und Hinternschwüngen die Tanzfläche eroberten, waren auf einmal alle Angestellten – Köche, Kellner, Nachtwächter – zur Stelle; auf ihren Gesichtern spiegelte sich eine Mischung aus Faszination und blankem Entsetzen...

Es gäbe noch unzählige Beispiele, die belegen, dass der Integrationswille der Zuwanderer hier im Jemen generell als mangelhaft gewertet werden muss. Viele bemühen sich nicht einmal, Arabisch zu lernen, sondern erwarten von den Einheimischen, dass diese Englisch sprechen. Kurzum: diese Leute WOLLEN sich gar nicht anpassen! Im Gegenteil: sie unterwandern bewußt die nationale Identität, die hiesigen Traditionen und Gesetze! Komischerweise habe ich hierzulande trotzdem von keinem Politiker gehört, der diese bedenklichen Zustände anprangert. Auch Slogans wie „Sana’a darf nicht Sidney werden!“ oder „Muezzin statt Bummerin!“ sucht man vergeblich...

Montag, 5. November 2007

Hochzeit

Ich habe euch doch schon von Reem erzählt, Hassans 23jährigen Tochter, die verheiratet werden sollte? Neulich war es soweit, und ich durfte endlich miterleben, was sich auf den mysteriösen Frauenparties abspielt...

Schon Wochen vor dem großen Tag war Reem in hellster Aufregung gewesen – was nicht verwunderlich ist, wo sie doch ihren Bräutigam, einen in Saudi-Arabien lebenden entfernten Cousin, noch nie gesehen hatte.
Konnte sie sich auch den Zukünftigen nicht aussuchen, so hatte die Braut in spe doch viele kleinere Entscheidungen zu treffen - Hochzeitskleid, Einladungen, Location etc.-, wobei ihre weiblichen Angehörigen sie nach Kräften verunsicherten, da jede noch so entfernte Tante die allerbeste Lösung parat hatte... insofern gibt es also durchaus Parallelen zur Vor-Hochzeitszeit in Europa.
Wie es dabei in Reems Innerem aussah, konnte ich mir aber beim besten Willen nicht vorstellen. Sie, die seit Abschluß der Pflichtschule ihre Tage in der väterlichen Kellerwohnung verbracht hatte, die bei jeder Gelegenheit rot wird, die Augen niederschlägt und hinter vorgehaltener Hand zu kichern beginnt, deren Welt nur vier männliche Bewohner hat – Vater und Brüder- , soll auf einmal zu einem unbekannten Mann in ein unbekanntes Land ziehen!
Ohne Zweifel ist Reem eine gute Partie, denn sie besitzt alle Qualitäten, die nach hiesigen Vorstellungen (nur nach hiesigen...?) eine perfekte Ehefrau ausmachen: sie ist wohlerzogen, fromm, schön, herzensgut, in Haushaltsdingen gewandt, bescheiden und (soweit ich das beurteilen kann) fügsam. Doch wie würde ER sein? Hatte der Vater den Richtigen ausgesucht? Und was, wenn nicht?

Eine Woche vor der Hochzeit kam der Bräutigam nach Sana’a, und – o Wunder - Reem durfte ihn sogar kurz treffen! Natürlich unter strenger väterlicher Aufsicht, aber auch das ist schon die Ausnahme – die meisten Paare sehen sich auf der Hochzeit zum ersten Mal. Nachher erzählte Reem mir mit einem Lächeln, das zwischen Aufregung, Angst und Freude schwankte, er sei schüchtern gewesen und habe einen netten Eindruck gemacht...

Zwei Tage vor der Hochzeit wurde unser Haus zum Männer-Sperrgebiet erklärt, im Stiegenhaus drängten sich haufenweise aufgebrezelte Frauen und erwarteten, singend und die typischen arabischen Hochzeitsrufe ausstoßend (für Insider: die Amama konnte das!), die Braut. Nach einer Stunde kam sie dann endlich, und ich hätte sie kaum wiedererkannt. Reem, die ich sonst immer nur in Hauskleidung gesehen hatte (Trainingsanzug, einfache Röcke, T-Shirts), trug ein giftgrünes (grün ist die Farbe des Propheten), über und über mit Strass, Glitzer und Rüschen besticktes Kleid mit Reifrock, das sie wie eine Prinzessinnendarstellerin aus Disneyland aussehen ließ. Gesicht und Decolleté waren weiß gepudert, die Augen pechschwarz umrandet, die Lider schillernd bunt bemalt und die Lippen blutrot. Aus der Ferne sah sie aus wie eine Puppe, aus der Nähe musste man sich fast ein bißchen vor ihr fürchten...
Mit einem nervösen, unsicheren Lächeln, leicht überfordert von der vielen Aufmerksamkeit, die ihr plötzlich zuteil wurde, stand Reem zwischen den vielen singenden und Konfetti werfenden Frauen und ließ sich von ihnen in eine Wohnung führen. Dort setzte man sie im Mafraj auf einen mit Plastikblumen geschmückten Thron, während sich die anderen Frauen dicht zusammengedrängt auf dem Boden niederließen. Aus der Stereoanlage dröhnte arabische Popmusik, und trotz der Enge standen immer wieder Mädchen auf, um paarweise die traditionellen jemenitschen Tänze mit ihren eleganten, gemessenen Bewegungen aufzuführen.
Der Braut blieb indessen nichts anderes übrig, als von ihrem Thron aus dem bunten Treiben zuzuschauen und sich zu langweilen... Nach einer halben Stunde wurde sie zum Gebet weggeführt - keine Ahnung, wie und wo sie das in diesem Aufputz hingekriegt hat. Meine Mitbewohnerin und ich hatten inzwischen genug davon, uns wieder einmal wie exotische Tiere im Zoo bestaunen zu lassen... denn so freundlich das große Interesse der Damen an uns beiden auch war, so ist es doch auf die Dauer anstrengend. Deshalb verließen wir die Hochzeits-Pre-Party, die sich noch bis spät in die Nacht hinzog...

Letzten Samstag war es dann soweit: die Hochzeit! Ich hatte mir noch schnell einen billiges Kleidchen gekauft, das aber in Sachen Glamour, Kitsch und Glitzer nicht einmal annähernd an jene der anderen Gäste, vor allem der jüngeren Mädchen, herankam. Nach einem halben Jahr im Jemen habe ich mir den Anblick von weiblichen Gesichtern, geschweige denn Körpern, schon dermaßen abgewöhnt, dass ich bei Betreten des Festsaales schier überwältigt war von so viel zur Schau gestellter Weiblichkeit - die Luft schwirrte förmlich vor lauter Haut, Haaren, Farbe, Schminke, Parfum, Klunkern... Ältere Frauen bevorzugen zwar noch traditionelle lange Gewänder, alten Silberschmuck und kunstvoll gewundene bunte Kopftücher, doch die Jugend hat sich weitgehend auf knallenge, wild gemusterte Polyester-Stretch-Kleider und High Heels eingeschworen. Eine dritte Stilrichtung, die sich von den Traditionellen und den Modernen abhebt, hätte Edward Said wohl dem Phänomen „Neo-Orientalismus“ zugeordnet – einige Mädchen und jüngere Frauen sahen nämlich aus wie Pseudo-Araberinnen auf einem österreichischen Faschingsfest: Käppchen mit Schleier, glitzernde Bauchtänzerinnentops und Pumphosen...
Als wir ankamen, saßen die Frauen in dem mafrajaehnlichen Saal und tratschten, vor sich kleine Sackerln mit Wasser, Soft Drinks und ein paar Keksen – was mich, die ich mir ein orientalisch-opulentes Gelage ausgemalt hatte, etwas enttäuschte... Ein paar ältere Frauen kauten Qat; Kinder in kitschigen Kleidchen tobten umher. Über Lautsprecher wurde Live-Musik aus dem Nebenraum übertragen, in den die (männliche) Band zwecks Wahrung der sittlichen Ordnung verbannt worden war.
Nach ein, zwei Stunden wurde die Stimmung etwas lebhafter, und einige Mädchen begannen, zu tanzen. Die Musik war eine Mischung aus traditionellen jemenitischen Liedern und arabischen Hits aus Ägypten und dem Libanon, und so wechselten auch die Tänze zwischen lokalen Schrittfolgen und modernem Bauchtanz.
Von der Braut fehlte indes noch immer jede Spur, und es sollte noch zwei weitere Stunden dauern, bis sie endlich erschien... meine Mitbewohnerin und ich unterhielten uns (und unfreiwillig auch alle anderen Gäste) währenddessen mit dem Versuch, uns auf der Tanzfläche ein paar Moves abzuschauen...

Und dann kam Reem. Sie betrat den Saal durch eine Tür, die direkt auf einen mit weißen Rosen geschmückten Catwalk führte. Ihr weißes, schulterfreies Kleid war über und über mit Straß besetzt und endete in einem weiten Reifrock. Die kunstvoll aufgesteckten Haare waren von einem weißen Schleier bedeckt, an Armen, Decolletée und um die Hüften trug sie schweren Goldschmuck. Wieder war sie stark geschminkt, Hände und Arme waren mit Henna bemalt. Es hatte irgendwie etwas sehr rührendes, wie sie da allein stand in ihrem kitschigen Prinzessinnenkleid, das zu weit war für ihren schmalen Körper, mit den Händen am Schleier nestelte, und schüchtern, aber gleichzeitig stolz in die Menge lächelte...
Die Gaeste begrüßten sie mit lauten Freudenrufen und Gratulationsgesängen, die Jugend (wir inklusive) bildete einen Kreis und tanzte. Reem bewegte sich währenddessen unendlich langsam auf das andere Ende des Catwalks zu, und nach jedem Schritt wurde sie von allen Seiten sicher zehntausendmal photographiert. Einige Frauen, die befürchteten, aus Versehen abgelichtet zu werden, zogen schnell ihre Abbayas an. Später wurde Reem in den Kreis der Mädchen geführt, und alles riß sich um einen Tanz mit ihr. Dann wurde sie, wie zwei Tage vorher, auf einen Thron gesetzt, wo sie sicher eine Stunde lang ausharren mußte. Mir scheint, die anderen Mädchen hatten viel mehr Spass als Reem selbst – ihre Aufgabe bestand weitgehend darin, sich geduldig bestaunen zu lassen.

Als wir schon fast gehen wollten, kam plötzlich Bewegung in den Saal – alle Frauen zogen hastig ihre Abbayas an, verhüllten ihre Haare und ließen ihre Gesichtsschleier über das Make-Up fallen... es war an der Zeit, die Braut in das Haus des Bräutigams zu begleiten.
Hassan und sein ältester Sohn kamen, posierten noch mit Reem für ein paar tausend Erinnerungsphotos, warfen ihr dann auch eine Abbaya um und brachten sie in ein mit Blumen geschmücktes Auto. Auch die restliche Festgesellschaft quetschte sich in Autos, die vor der Halle warteten, und laut hupend fuhr der Konvoi einmal um den Block, bevor man das Haus des Bräutigams erreichte – in diesem Falle war es natürlich nicht wirklich sein Haus, sondern wahrscheinlich das eines Verwandten.
Dort geleiteten die Frauen Reem in den Mafraj, wo sie ihre Abbaya wieder auszog (die anderen Frauen blieben ganz verhüllt).
Die Spannung stieg, während man auf den Bräutigam wartete... tausende Tanten zupften an Reems Kleid herum, zogen ihr den Schleier vors Gesicht und raunten ihr gute Ratschläge, Zusprüche, Ermunterungen zu...
Auf einmal betrat ein sympathisch wirkender junger Mann den Raum. Er trug, wie hierzulande an Feiertagen üblich, eine weisse Galabiya, darueber ein Jackett, seine Jambiya (Krummdolch) steckte in einem bunt bestickten Gürtel. Alles verstummte, als er sich auf seine Braut zubewegte und ihren Schleier hob. Kurz lächelte sich das Paar an, und dann mussten wieder unzählige Photos geschossen werden... der Bräutigam legte dabei unbeholfen den Arm um Reem und versuchte, selbstbewusst in die Kamera zu schauen, waehrend sie stocksteif und mit grossen Augen danebenstand...
Dann war es an der Zeit, das Paar alleine zu lassen.

Ich ging an diesem Abend mit gemischten Gefühlen nach Hause. Einerseits war ich erleichtert, dass der Bräutigam so nett gewirkt hatte. Aber was heißt das schon? In ein paar Wochen reist Reem dann endgültig mit ihm nach Saudi-Arabien ab. Sie läßt eine Schwester zurück, die jetzt alleine die Zeit im Keller totschlagen muß, und hat selbst eine Reise ins Ungewisse vor sich. Ich hoffe sehr, dass die beiden sich halbwegs vestehen und dass das dortige Netzwerk an verwandten und benachbarten Frauen Reem auffangen wird. Denn in einer Gesellschaft wie der hiesigen, wo die Geschlechtersegregation so stark ist, kommt es, wie mir scheint, mehr auf die Solidarität unter den Frauen an als auf eine glückliche Ehe im europäischen Sinn.

P.s. Ich muß noch etwas korrigieren: in „Liebesg’schichten und Heiratssachen“ habe ich geschrieben, dass die meisten Frauen, die ich getroffen habe, mich nicht um meine Freiheiten beneiden und mit dem hiesigen Lebensmodell zufrieden scheinen. Inzwischen bin ich aber vielen Frauen begegnet, die sich sehr kritisch zu den hiesigen Traditionen äußern. Vor Allem jüngere und gebildetere Frauen wünschen sich mehr Selbstbestimmung und gesellschaftliche Mitsprache. Manche bitten mich sogar, ihnen einen österreichischen Ehemann zu vermitteln... Das heißt aber nicht, dass diese Frauen das westliche Lebensmodell unkritisch übernehmen wollen, sondern vielmehr, dass sie einen islamischen, jemenitischen Weg der Emanzipation suchen.

Mittwoch, 24. Oktober 2007

Äthiopien

Kennt ihr das, wenn man von einer Reise zurückkommt und das Gefühl hat, die Seele noch irgendwo auf halbem Weg zurückgelassen zu haben...? So geht es mir gerade. Ich kann's noch gar nicht glauben, dass ich wirklich in Äthiopien war!
Mit ein Grund für meinen derzeitigen Zustand fröhlicher Verwirrung war sicher auch die völlige Ungeplantheit dieser Reise. Alles, was ich wusste, bevor ich letzten Freitag ins Flugzeug stieg, war, dass ich drei Tage später zwei deutsche Freunde aus Sana'a in Axum treffen würde. Doch zwischen Addis Ababa und Axum lagen 1400 km miserabler Straßen und viele Fragezeichen...

Samstag früh saß ich dann schon in einem der staatlichen Überlandbusse – leider in der allerletzten Reihe, weil ich nicht wusste, dass man sich die besseren Plätze Stunden vorher reservieren muss...
Gespannt und etwas reisefiebrig sah ich der dreitägige Fahrt durch ein Land entgegen, von dem ich herzlich wenig Ahnung hatte, und das in letzter Zeit nicht gerade gute Presse bekommen hat – bei Äthiopien denkt man zuerst einmal an Hungesnöte und bittere Armut.

Entsprechend überrascht war ich, als wir die Vorstädte von Addis hinter uns gelassen hatten: die Regenzeit hatte die sonst so karge, trockene Natur in ein Bild des scheinbaren Überflusses verwandelt; die Felder standen im Korn, die Wiesen waren so saftig-grün wie auf heimischen Almen, und Hirten, die mit ihren hohen Turbänen, weißen Umhängen und eleganten Gehstöcken eher wie archaische Könige aussahen, trieben langhörnige Rinder vor sich her...
Doch diese Pracht hält nur kurz an, bald wird der Boden wieder staubtrocken sein.

Aber ich hatte nicht nur Glück mit der Jahreszeit, sondern auch mit meinen Sitznachbarn, Soldaten auf dem Weg zur Grenze nach Eritrea. Sie sprachen zwar kaum Englisch, fühlten sich aber gleich für mich verantwortlich, organisierten mir abends eine Unterkunft, brachten mir die hohe Kunst des Injera-Essens bei (das äthiopische Nationalgericht, ein säuerlicher Fladen, mit dem man verschiedene Soßen auftunkt) und steckten mir pausenlos Proviant zu.
Das mit dem Proviant war überhaupt faszinierend: alles wurde geteilt, und so selbstverständlich wie man anbot, nahm man die Speisen der anderen auch an. Keinem wäre eingefallen, nur zwei Bananen am Straßenrand zu kaufen, nein, man kaufte gleich zehn und verteilte sie unter den Nachbarn.
Der Busfahrer unterhielt indes seine Passagiere hie und da mit kleinen Showeinlagen, indem er Witze ins Mikrofon brüllte und den nächsten Song ankündigte, was zu kollektiven Ausbrüchen von Heiterkeit führte... Auch meine Kamera und mein Reiseführer erfreuten sich unter den Fahrgästen großer Beliebtheit. Jeder wollte ein paar Photos schießen und die Karte seiner Heimatstadt oder -region studieren, und so brauchten wir nicht viele Worte, um uns blendend zu verstehen.

Drei Tage und dreißig holprige Fahrstunden später kam ich verstaubt, verschwitzt und erschöpft in Axum an, der ehemaligen Hauptstadt des ältesten Königreiches Äthiopiens. Die historische Bedeutung diese Ortes war mir aber zunächst völlig egal, ich wollte nur duschen... das Hotel, das ich mit meinen Freunden als Treffpunkt ausgemacht hatte, war verglichen mit den Absteigen der letzten Nächte reinster Luxus, und so genoß ich die Ruhe und den köstlichen äthiopischen Kaffee (mit Milchschaumhaube!). Am frühen Abend kamen die beiden, und wir machten große Pläne, was wir uns alles am nächsten Tag anschauen wollten, bevor wir am Mittwoch früh nach Lalibela weiterfliegen würden.
Doch es kam alles anders... am nächsten Morgen erfuhren wir, dass der Flug am Mittwoch schon ausgebucht war, und so blieb uns nichts anderes übrig, als noch am selben Vormittag Axum zu verlassen. Immerhin konnten wir auf dem Weg zum Flughafen noch kurz bei den berühmten Grabstelen stehenbleiben und, wie die japanischen Touristen, schnell ein paar Photos schießen...

Und dann waren wir in Lalibela... so lange schon wollte ich die berühmten Felsenkirchen sehen, und auf einmal stand ich davor!
Der Legende nach hatte König Lalibela im 13. Jahrhundert von Gott im Traum den Auftrag bekommen, ein zweites Jerusalem zu errichten. Wie die Handwerker es fertigbrachten, die Bauten aus dem Fels herauszuschneiden und von innen auszuhöhlen, ist nach wie vor ein Rätsel. Nirgendwo sonst in Äthiopien findet man Spuren derartigen technischen Geschicks und stilistischer Perfektion. Da gibt es keine gemauerten Stellen, keine Ausbesserungen, keinen Makel – die Kirchen sind nahezu perfekt, wenn die Zeit ihnen auch zugesetzt hat.

Am schönsten fand ich das kreuzförmige Bete Gyorgis, das frei in einem tiefen Schacht steht, umgeben von dem Felsen, aus dem es herausgeschnitten wurde. Zeitlos und anmutig steht es da, als wäre es vollendet vom Himmel gefallen.
Innen sind die Kirchen eng und dunkel, die Wände teils mit Wandmalereien bedeckt. Priester in prachtvollen bunten Gewändern zeigen den Besuchern Kreuze und alte Schriften.



Bete Gyorgis

Zwei Tage verbrachten wir in Lalibela und Umgebung. In einem Kloster außerhalb des Ortes war gerade ein Begräbnis in Gange, als wir kamen. Unmengen von Leuten hatten sich vor der Kirche versammelt, die meisten in ärmlicher Kleidung und sichtlich untergewichtig. Die Diskrepanz zwischen diesen klapprigen Gestalten und der sie umgebenden fruchtbaren Natur schien mir unerklärlich. Erst meine Freunde in Addis konnten mir diese chronische Nahrungsknappheit verständlicher machen. 80 Prozent der äthiopischen Bevölkerung lebt von Subsistenzwirtschaft. Das Land wird unter den Kindern aufgeteilt, und da es derer immer mehr gibt, fallen den Erben immer kleinere Anbauflächen zu. Die Anbaumethoden sind mittelalterlich, die Böden oft schwer bebaubar, und die Erträge daher sehr gering. Hinzu kommen unsichere Niederschläge, die Abgelegenheit vieler Regionen, die nicht an das schwache Straßennetz angebunden sind, steigende Getreidepreise und der mangelnde Wille der Regierung, das drastische Versorgungsproblem in Angriff zu nehmen. In einem anderen Kloster trafen wir ein 18jähriges Mädchen, das wir auf 14 geschätzt hätten, so schmächtig war es – Mangelernährung hatte seine körperliche Entwicklung gehemmt.

In Addis Ababa, unserer nächsten Station, existieren Reichtum und Armut, Fortschritt und Verzweiflung dicht nebeneinander. Die Stadt wächst rasant an, und mit ihr auch das Angebot für die vielen Ausländer und die einheimische Oberschicht: hier gibt es schicke Restaurants, stylishe Nachtclubs, Einkaufszentren und neuerdings sogar einen deutschen Bäcker, bei dem die Kundschaft für Schwarzbrot und Nussschnecken Schlange steht... alles Dinge, von denen man in Sana'a nur träumen kann. Aber auf der anderen Seite sieht man hier aber auch viel Elend: Bettler, Obdachlose, Slums. Ich hatte mich vor dieser Armut gefürchtet, und mich zeitweise auch gefragt, ob es moralisch vertretbar ist, als Touristin in ein Land zu fahren, das seine Bevölkerung kaum ernähren kann. Aber inzwischen bin ich davon überzeugt, dass gerade in Äthiopien ein vernünftiger Tourismus viel Gutes bringen kann.

Ein positives Beispiel dafür ist ein von der GTZ (Gesellschaft für technische Zusammenarbeit, deutsche Entwicklungsorganisation) ins Leben gerufene Ökotourismusprojekt in einem Nationalpark südlich von Addis. Dorthin fuhr ich mit drei GTZ-Praktikantinnen, um drei Tage lang teils zu Fuß, teils zu Pferde von einer Lehmhütte zur nächsten zu ziehen, immer weiter bergauf, bis wir auf 3600m standen, von Wind und Regen umbraust...

Nach dieser erlebnisreichen Tour verbrachte ich noch ein paar sehr gemütliche Tage bei meinen Freunden in Addis - lesend, schlafend und essend...

Ich sehe gerade, der Bericht ist viel zu lang geworden... deshalb nur noch einmal schnell tausend Dank an Ulli und Albert – ohne Euch wäre diese Reise nie zustande gekommen!

Photos vom Nationalpark kommen noch...

Mittwoch, 3. Oktober 2007

Ramadan karim!

Seit drei Wochen schon steht hierzulande die Welt kopf, und seit drei Wochen schon nehme ich mir vor, diesen Zustand in Worte zu fassen.

Da wäre zunächst der völlig verdrehte Tagesablauf. Vor zwölf Uhr mittags ist kaum jemand auf der Straße, alle Geschäfte haben zu, die Stadt liegt in tiefem Schlummer. Nachmittags geht man halbherzig und hungrig seinen Verpflichtungen nach, doch je näher der Sonnenuntergang rückt, desto hektischer wird die Stimmung. Scharen von Frauen drängen sich beim Bäcker und im Greißler am Eck, die Männer versorgen sich mit Qat. Alle haben es eilig, denn bald darf endlich wieder gegessen werden...
Bei Einbruch der Dunkelheit gibt der Ruf des Muezzins das Startsignal zum Iftar, dem Fastenbrechen. Man beginnt mit einer Dattel – die hierzulande als Paradiesfrucht gilt - und einem Glas Wasser. Dann folgen in Fett ausgebackene Teigtaschen (Sambusas), die den ersten Hunger stillen sollen, bis nach dem Abendgebet das Festmahl mit traditionellen Ramadanspeisen beginnt. Freunde und Verwandte besuchen sich gegenseitig und essen gemeinsam.

So still es zur Zeit untertags ist, so lebendig ist es nachts – da wird gearbeitet, gefeiert, gefeilscht und gelärmt. Kinder spielen bis lange nach Mitternacht auf den Strassen, werfen Knaller und entzünden kleine Feuer. Sogar Frauen sind zuhauf zu sehen, vor Allem auf den Märkten und Einkaufsstraßen – denn nach Ramadan kommt der Eid, anlaesslich dessen man sich von Kopf bis Fuß neu einkleidet. Reminiszenzen an die Mariahilfer Straße am vierten Adventssonntag werden wach...
Viele Jemeniten bleiben bis zum ersten Gebet kurz vor Sonnenaufgang wach, frühstücken noch einmal, und legen sich dann ins Bett, wo sie bis mittags oder gar länger bleiben – was den großen Vorteil hat, dass die Zeit des Fastens um etliche Stunden verkürzt wird...
Andere arbeiten wiederum, obwohl sie den ganzen Tag weder essen noch trinken, ganz normal, was ich maßlos bewundere. Die Erschöpfung steht diesen tapferen Helden aber ins Gesicht geschrieben... mein Arabischlehrer bekam beim Deklinieren des Verbs „essen“ einen so sehnsüchtigen Blick, dass ich vor Mitleid verging, und neulich im Taxi sah ich im Rückspiegel, wie die Augen des Fahrers immer kleiner und kleiner wurden, was mich auf einmal zu ungeahnter Gesprächigkeit im Arabischen befähigte... ist diese Sprache also doch zu etwas gut!

Die allgemeine Stimmung wird mit Fortschreiten des Ramadan spürbar gereizter, die Menschen wirken - vor Allem gegen Ende des Tages - unausgeglichen. Im Strassenverkehr wird mehr gebruellt, NOCH mehr gehupt als sowieso immer schon, und laut Zeitung häufen sich auch die Unfälle. Vor ein paar Tagen stand plötzlich ein Militärlaster genau vor unserer Tür, inklusive acht Soldaten mitsamt Kalashnikovs auf der Ladefläche... als ich Hassan, unseren Hausverwalter, danach fragte, zuckte er nur mit den Schultern und meinte „Es ist Ramadan!“. Inzwischen haben sich diese neuen Nachbarn schon gut ins Straßenbild eingefügt und grüßen mich freundlich... Meine Mitbewohnerin beschwert sich in letzter Zeit öfter ueber unverschämte Männer - ein Problem, das hier ansonsten, verglichen z. B. mit Rom, kaum ein Thema ist.
Kurzum, alle spielen ein bisschen verrückt...

Aber der Ramadan hat durchaus auch seine guten Seiten. So versorgen uns Hassans Töchter fast täglich mit frischen Sambusas, am Vormittag ist es herrlich still, und die Arbeit im Ministerium beginnt erst um 10 Uhr. Ich habe in den letzten Wochen aber sowieso nachts gearbeitet, unsere Workshops in der Hauptstadt waren eine eher zaache G'schicht, viele Organisationen haben im letzten Moment abgesagt oder sind einfach gar nicht gekommen, die Arbeitsmoral meiner Studenten war im Keller, und meine ebenso.

Deswegen, und weil wir ueber Eid einige Tage frei haben, UND weil ich mir damit einen Traum erfülle, hab ich kurzerhand beschlossen, für zwei Wochen nach Äthiopien zu fliegen! Am Freitag geht es los, ich bin schon furchtbar gespannt. Der nächste Bericht wird dementsprechend anders ausfallen...

Und weil's so schön war vorletzte Woche im Haraz-Gebirge, hier ein paar Photos.
Zuletzt noch ein shout out an Soldier Women, Lucky und Uchti – war grandios mit euch!!!

Leni



Samstag, 8. September 2007

Auf und ab

Liebe Leute,

zwei Wochen sind vergangen, und wir tuckern immer noch quer durchs Land. Langsam hab ich genug von billigen Hotels, in denen fleckige Teppichboeden und fremde Haare im Bett zur Standardausstattung gehoeren, und das immergleiche Essen (Fruehstueck Kaesesandwich, Mittag Hendl mit Reis, Abend Bohnen) kann ich auch nicht mehr sehn...
Unsere gestrige Fahrt hat mich aber wieder fuer einiges entschaedigt. Ausgangspunkt war die Kleinstadt Mahweet, die auf zirka 2000 Hoehenmetern ueber steilen Abgruenden thront, umringt von schroffen, zur Zeit gruen bewachsenen Gipfeln, ueber denen die Adler kreisen...
Auf einer abenteuerlich eng gewundenen Strasse geht es bergab, bergab, bergab, vorbei an Kaffeeplantagen, die in Terrassen angelegt sind, um den Steilhaengen das Maximum an urbarem Boden abzuringen, Hirten mit ihren Ziegen- und Schafherden, die ausschauen, als waeren sie gerade einer Bibelillustration ensprungen, und winzigen Doerfern, deren Steinbauten sich kaum von der felsigen Umgebung abheben.
Zwei Stunden spaeter sind wir auf null angelangt, und die Landschaft aendert sich drastisch: eine voellig flache, sandige Steppe, die Tihama, erstreckt sich bis ans rote Meer. Palmenhaine, strohgedeckte Lehmhuetten, Kamelherden – diese Region wird auch „der afrikanische Jemen“ genannt. Mit abnehmenden Hoehenmetern steigen die Temperaturen wieder gefaehrlich gen 50; vorbei ist’s mit der frischen, klaren Bergluft, die ich noch nie so genossen hatte wie nach den drei Tagen in Al Hodeida, wo saunaaehnliche klimatische Bedingungen herrschen. Hierzulande wuensche ich mir manchmal echt, als Wechselbluetler geboren zu sein...

Ein Wort noch zu Al Hodeida – diese Hafenstadt am roten Meer war bis jetzt der einzige Ort, an dem ich mich gar nicht wohl gefuehlt habe. Es mag daran liegen, dass ich nach monatelangem Herumreisen inzwischen schon ziemlich ausgelaugt bin; was mich aber besonders getroffen hat, war die unglaubliche Armut dieser Stadt. Waehrend an der Adener Uferpromenade abends Familien flanieren und in Al Mukalla Gruppen von Maennern bei Qat und Wasserpfeife Karten spielen, schlagen in Al Hodeida unzaehlige Obdachlose ihr Lager an dem rattenverseuchten Ufer auf.

Ueberhaupt ist mir auf dieser dritten Reise die Armut des Jemen staerker bewusst geworden. Es war wohl eine Art psychischer Schutzmechanismus, der mich anfangs vor allem das Schoene und Gute dieses Landes hat sehen lassen, waehrend die vielen unueberwindbar scheinenden Probleme einfach nicht bis in mein Herz durchgesickert sind. Doch ploetzlich wurden mir die vielen erschuetternden Bilder zuviel – der hoechstens sechsjaehrige Bub, der in Taiz den ganzen Tag lang die Strasse kehrt, die ausgemergelten Gesichter der Bettler, die allerorts an unsere Autofenster klopfen, die Hoffnungslosigkeit in einem kleinen Dorf, wo uns alle Einwohner, alt und jung, Mann und Frau, um etwas Geld baten.
Wie soll man inmitten dieser Realitaet leben, ohne voellig zu verzweifeln? Auf der Suche nach einer Strategie nehme ich mir meine jemenitischen Kollegen zum Vorbild, die zweierlei auf bewundernswerte Weise kombinieren: Grosszuegigkeit und Gottvertrauen.

Auf unserer Reise ging es bald wieder bergauf, tapfer erklommen unsere Jeeps die Berge und brachten uns sicher nach Hajja. Leider spricht nichts dafuer, dass es in der Entwicklung des Jemen ebenso steil bergauf geht, im Gegenteil...

Ich hoffe, euch geht’s allen gut, wo auch immer ihr steckt und was auch immer ihr tut, ob ihr an einem der vielen Enden der Welt das Abenteuer sucht oder in heimatlichen Gefilden chillt, ein Eis nach dem anderen verschlingt oder ein Dokument nach dem anderen kopiert, ob ihr in glasklare Fluten oder in die schnelle Welt der New Economy eintaucht...